Es macht einen Unterschied, ob Menschen eine Strecke im Flugzeug, auf dem Fahrrad oder zu Fuss zurücklegen. Je langsamer die Fortbewegung, desto mehr Details lassen sich erkennen und erleben.
Entsprechend macht es einen Unterschied, ob Manager und Forscher Probleme überfliegen oder sich auf konkrete Situationen in Märkten, bei Kunden und mit Mitarbeitenden einlassen. Die These ist eindeutig: Zu viele Verantwortliche bleiben oberflächlich. Das Ergebnis sind naheliegende Lösungen, die häufig nicht konsequent realisiert werden.
Sich zu vertiefen ist aufwendig – Lohnt es sich?
Jeder ist im Privaten in manchen Bereichen ein Dilettant. Dies kann die Nutzung von Elektronik und sozialen Medien, die eigenen Geldanlagen und Versicherungen oder handfeste Bereiche, wie den Hausbau, betreffen. Dabei zeigen die Beispiele nur einen Bruchteil der möglichen Fachgebiete auf. Genügt es, sich in diesem Kontext – recht zufällig – nur auf einen kleinen Teil der Möglichkeiten zu beschränken?
Muss man sich selbst nicht mehr anstrengen, weil sich alles an Spezialisten delegieren lässt – auch im geschäftlichen Kontext? Genügen Papiere als Grundlage für grosse Entscheide in Unternehmen, oder sollten sich Verwaltungsräte und Manager stets vor Ort kundig machen und sich mit Betroffenen austauschen? Wo gilt es die Ressourcen einzusetzen? Oder verlieren wir mit zu viel Tiefgang die Übersicht und verstricken uns in Details? Bleiben wir oberflächlich, weil wir Angst vor der Vielfalt der Realität haben?
An der Oberfläche zu kratzen, reicht nicht aus
Laufend ist jeder mit der Frage konfrontiert, wo er sich mehr vertiefen soll. Etwas nur ungefähr zu wissen, ist oftmals bequemer. Ohnehin lässt sich in manchen Situationen schummeln und überspielen (besonders wenn andere in den Gremien oder Teams auch nicht informiert sind).
Doch wer sich nur auf das Grobe beschränkt, läuft Gefahr, falsch zu entscheiden, wird abhängig von anderen und leichter über den Tisch gezogen. Wer ängstlich seinen Einsatz optimiert und keine Umwege oder Vertiefungen in Kauf nehmen will, der ist nicht neugierig und findet nichts Wichtiges. Echte Fortschritte bleiben somit aus. Die Folgen der Oberflächlichkeit in Bezug auf Risiko von Fehlentscheiden und Abhängigkeit gilt es mit Distanz sorgfältig abzuschätzen.
Die richtige Balance an Breite und Tiefe finden
Bei Problemlösungen gilt es, die Tiefe und Breite des Vorgehens auszubalancieren. Ein Schwerpunkt der Aus- und Weiterbildungen in Management und Marketing bestand früher darin, den Prozess der Problemlösung zu üben. Dieser gliedert sich beispielhaft in folgende Phasen:
- Vorgaben und Problemstellung
- Diagnose
- Ziele
- Alternativen
- Strategische und operative Lösungen
- Realisierung und Kontrolle
In der Realität ist es oft erforderlich, diese Phasen mehrfach vor- und/oder rückwärts zu durchlaufen, zu ergänzen und zu korrigieren. Ausserdem sollte ein Top-down-Vorgehen stets durch einen Bottom-up-Ansatz ergänzt werden. Grosse Problemlöseprozesse lassen sich zudem in wichtige kleine aufteilen. Die Ansprüche sind eine Reife und Geschlossenheit.
Tiefgang als Hindernis in der Praxis
Inzwischen wird diese Balance in der Praxis selten sorgfältig berücksichtigt und durchexerziert. Meistens wird dabei vor allem das «von unten nach oben» zu wenig gewichtet. In aktuellen Präsentationen und Konzepten fehlen die erwähnten Schritte meistens. Sie wirken oft additiv. Ohne gemeinsam die Probleme oder Herausforderungen präzisiert zu haben, werden selbstverständliche und generische Ziele bestimmt und munter erste Lösungen vorgeschlagen. Messbares wird manchmal der Bezug, um Lösungen zu wählen. Prioritäten werden gewechselt, bevor sie überhaupt eine Wirkung erzielen können. In jeder Phase einer Problembearbeitung lässt sich Oberflächlichkeit erkennen.
Das Big Picture als Orientierungsrahmen
Und dazu nur ein scheinbarer Widerspruch: Tiefe braucht auch Breite und Übersicht. Fehlt etwa eine gute Allgemeinbildung der Verantwortlichen, so mangelt es auch an Gespür für ergiebige Akzente und Innovationen. Allgemeinbildung prägt die Fähigkeit, die Möglichkeiten zu erkennen, sie zu studieren und zu vertiefen. Generell prägt sie eine Haltung, die neuen Themen wirksam abzugrenzen und zu erkunden. Tiefgang bedeutet beispielsweise im B2B-Marketing, nicht nur das eigene Produkt zu verstehen, sondern die gesamte Wertekette vom Rohstoff bis zur Anwendung des Kunden zu durchdringen. Tiefe schliesst das Umfeld des Kunden mit ein.
Doch wo kann man ansetzen?
Folgende Fragen sollen als Anregung für die Realisierung von Tiefgang und Weitblick in B2B-Marketing und Vertrieb dienen:
- Brauchen Führungskräfte die Kenntnisse zu Branche und Technologie für gute Lösungen, oder wachsen alle Produkte und Märkte zusammen und gehorchen ohnehin den gleichen Wirkungsmechanismen, etwa in Marketing und Vertrieb?
- Lässt sich sogar argumentieren, dass Industrie, Konsum- und Gebrauchsgüter sich immer ähnlicher vermarkten lassen?
- Brauchen Führungskräfte den Zugang zu vielfältigen nationalen Märkten, oder spielen nur noch globale Ansätze eine Rolle?
- Sind die Verantwortlichen bereits genügend gefordert, um generelle Entwicklungen von Pandemie, Digitalisierung bis Nachhaltigkeit mindestens oberflächlich mit dem eigenen Unternehmen zu verbinden?
- Ist professionelles Management in allen Firmen gleich?
Tiefgang mit Weitblick ist gefragt
Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten, doch häufig werden sie überschätzt. Die Kunst von Management, Marketing und Vertrieb liegt darin, spezifische Probleme zu bearbeiten und gezielt zu lösen. Beispielsweise meinen viele Führungskräfte in Marketing und Vertrieb, es genüge, einige Vorteile des Kunden für den Kaufentscheid einzubringen. Sie scheuen sich, die Etappen der langen Reise des Kunden zu durchleuchten und Stellhebel für die wirksame Kundenbegleitung zu identifizieren.
Kurz: Die grösste Herausforderung liegt nicht in der Aggregation, sondern darin, in vielfältigen Marktsituationen richtig vorzugehen, die Lösungen zu konkretisieren oder herunterzubrechen. Seit je ist es auch intellektuell anspruchsvoller, Konzepte zu realisieren, als diese zu entwickeln.
Was Unternehmen mitbringen müssen
Es braucht mehr Verständnis der Verantwortlichen für Technik, Produkte und Services, Anwendungen des Kunden, Arbeitsweisen der Mitarbeitenden auf Kundenseite sowie der Mitarbeitenden in der eigenen Produktion, im Vertrieb und Kundendienst. Eigene Erfolge und Misserfolge gilt es zu verstehen. Informationssammlungen gilt es zu verdichten und zu interpretieren. Eine Ist-Analyse genügt nicht, denn es braucht die kritische Diagnose und den Dialog. Papierarbeit greift zu kurz, um ein fundiertes Bild zu gewinnen. Betroffene im Unternehmen und bei Kunden sollen ja zu Beteiligten werden.
Übersicht und Detailwissen sind die Grundlage für relevante Forschung
Die angestellten Überlegungen betreffen übrigens nicht nur Praktiker, sondern ebenso Forscher. Manche ziehen sich auf abstrakte Systeme und Konzepte zurück, die zwar überall gelten, aber wenig bewirken. Wer hilfreiche Ergebnisse entwickeln will, der muss sich einlassen. Es lässt sich über Big Data im Marketing diskutieren, aber ohne Anwendungen in Unternehmen und die CRM-Software zu kennen, fehlt das nötige «Fleisch am Knochen». Auch eine extreme Tiefe durch abgegrenzte Teilfragen und Experimente liefert keine Antworten in realen Problemen mit vielfältigen Bedingungen.
Fazit
Dieser kurze Beitrag beschreibt ein aktuelles Gefühl zu Management und Marketing. Er fordert mehr Tiefgang bei den Verantwortlichen. Folgerungen sind recht grundsätzlich, aber nicht so klar zu fassen. Es gibt drei Grundsätze, die helfen: (1) Akzente statt Vollständigkeit, (2) Inhalt statt Hülse und (3) Konsequenz statt Aktionismus. Das Fazit lautet dabei: Wenn schon geflogen wird, sollten sich Führungskräfte tiefer halten, denn über den Wolken entstehen keine guten Lösungen. Manchmal ist es sogar besser, sich langsam zu bewegen. Dann kommt man weiter. Und: Gründlichkeit spart letztlich Zeit. Manches könnte für die Entwicklung von Marketing und Vertrieb von der Technologie- und Produktinnovation gelernt werden.
Geschrieben von Prof. Dr. Christian Belz, emeritierter Ordinarius für Marketing an der Universität St. Gallen und Verwaltungsratsvorsitzender des Center for Industrial Marketing.